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Erinnerungen und Erkenntnisse
Foto: Marco Stepniak

Erinnerungen und Erkenntnisse

Lesedauer: ca. 2 Min. | Text: Karoline Jankowski

Klaus Moyseschewitz ist 100 Jahre alt und Dorstens ältester Autor: Mit 97 schrieb er über die erste Hälfte seines Lebens – die zweite ist in Arbeit.

Natürlich habe ich Kuchen da!“, ruft Klaus auf, den Tisch zu decken, während er sich gemütlich auf der Couch niederlässt. Ein Jahrhundert hat dieser Mann auf diesem Planeten verbracht, und man merkt es ihm nicht an. „Jeden Morgen Gymnastik und ein gesundes Frühstück“, erklärt er und beißt genüsslich in einen Käsekuchen. Humor trifft Charme. „So hab ich Miss Bradley rumgekriegt“, schmunzelt er. Eine Englisch-Dozentin, bei der er sich mit Tee und Keksen einen Sprachkurs ergaunerte, nur um seinen Lieblingsradiosender BFN zu verstehen. Clever. Nach diesem königlichen Exkurs lernte er seine „Kameradin fürs Leben“ kennen – wieder auf unkonventionelle Weise: Sie hatten keine Tickets für eine Kulturveranstaltung, schlichen sich gemeinsam hinein und schmunzelten sich dann 70 Jahre durch die Ehe. Arbeit, ein Bausparvertrag, Glück beim Hauskauf und ein ruhiger Lebensabend im idyllischen Altendorf-Ulfkotte – seit 1951 also, ZDF-Herzkino. 

Keine Feinde

„Und was war davor?“ Klaus schneidet ein Stück Käsekuchen und denkt nach. Geboren in Königsberg, von der Wehrmacht eingezogen, zwei, drei Nahtoderfahrungen, dann dreieinhalb Jahre Kriegsgefangenschaft. „Am Anfang war alles ziemlich brutal“, sagt er. „Es gab keine Pause. Wir haben alles gemacht: Straßen gebaut, in Fabriken geschuftet, auf den Feldern gearbeitet.“ Doch die ständigen Krankheiten waren schließlich sein Glück: Er wurde in ein Lager verlegt, wo er für die Reinigung zuständig war und sich körperlich erholen konnte. Dann gibt es da diese Geschichte: Klaus trifft einen Kommandanten, der Operetten-Sänger war. „Stell dir vor, dieser Typ, der uns eigentlich als Feind galt, stand in der Ecke und sang ein Lied. Es war so schön, dass es mich das erste Mal zu Tränen rührte.“ Auch das Kriegsende wird für Klaus musikalisch geprägt: „Kein Mensch weit und breit. Und plötzlich flogen die russischen Flugzeuge über mich hinweg“, erinnert er sich. Er schließt für einen Moment die Augen, ist wieder in dem Graben, in dem er sich vier Stunden lang totstellte. „Und dann“, sagt er, „hörte ich plötzlich Violinenspiel. Glasklar, mitten im Kriegsgeröll.“ Er summt und lehnt sich zurück: „…Schenk mir ein Lächeln, Maria.“ Leute, die uns als Feinde gezeigt wurden, gar nicht so sind, wie man uns erzählte. Da saßen russische Soldaten, hörten begeistert deutsche Musik. Ich stellte mich vor, sie gaben mir zu essen, ich gab ihnen meine Zigarettenschachtel.“ Klaus trägt diese Geschichte wie ein wertvolles Erbstück. Trotz allen Horrors hat er eine philosophische Dimension gefunden, die hilft, das Gegenwärtige zu begreifen: Es gibt keine Feinde. Es gibt nur Leute, die Krieg wollen.

Nur Lärm

Heute verfolgt er die politische Entwicklung mit wachsamem Blick. Besonders die Aussagen von Extremisten lässt er sich nicht gefallen. „Hitler ein Kommunist?“, fragt er und schüttelt den Kopf. „Das ist Unsinn! Grauenhafter Stil, furchtbare Botschaft, absurde Handlung.“ Klaus ist kein Mann des Zorns, sondern des Glaubens. Der Glaube an die Demokratie und an die Vernunft. „Wir müssen zusammenhalten. Das habe ich gelernt.“

Info
Klaus Moyeseschewitz

Ein Feind muss nicht sein

ISBN: 9783000706912

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